Der Fälschungsskandal um Claas Relotius hat erschüttert. Nicht nur den Spiegel, sondern eine ganze Branche. Seine Schatten verdunkeln das Ansehen des Journalismus und gefährden dessen Bedeutung für unsere Demokratie. Darin war sich das Podium des Berliner Mediensalons von meko factory, dju in ver.di und DJV Berlin einig. Doch wo liegen die Ursachen? Was ist zu tun? Und was wird bleiben – vom (Sünden-)Fall Relotius?
340 Anmeldungen, so viele wie noch nie. Der Saal in der „taz-Kantine“ im neuen Verlagshaus überfüllt, viele Gäste sitzen auf dem Boden oder bleiben stehen. Im Publikum viele bekannte Gesichter, Medienjournalistin Ulrike Simon oder Journalistin und Auslandskorrespondentin Gemma Pörzgen etwa. Aber auch viele Leser*innen, Hörer*innen und Zuschauer*innen waren gekommen, „weil ihnen offenbar nicht egal ist, welche Art von Journalismus hier in diesem Land gemacht wird“, vermutet der stellvertretende Vorsitzende der dju in ver.di, Peter Freitag, in seiner Begrüßungsrede.
Die Entzauberung eines Genres
Ja, welche Art von Journalismus ist das eigentlich? Ein Journalismus, für den sich seit Jahren „dieselben 100 Leute immer wieder gegenseitig die Oscars verleihen“, formuliert der freie Journalist Hajo Schumacher zugespitzt. Ein Journalismus „des Schönschreibens nur um des Schönschreibens willen“, nennt es die Chefredakteurin der Frankfurter Rundschau Bascha Mika. Klar ist: Es geht um die Königsdisziplin Reportage, und hier besonders die Auslandsreportage. Denn „je weiter sie weg ist, umso einfach ist es, die Wahrheit schöner zu machen“, sagt Schumacher. Nicht dass am Bedürfnis des Schönschreiben etwas auszusetzen sei, findet Mika, doch fragt sie, wo in den schön geschriebenen Geschichten die Relevanz geblieben sei. Die sei laut Schumacher irgendwann in den 90ern verloren gegangen, als die Reportage immer weniger Sozialreportage geworden sei und der Pop-Journalismus immer mehr sein Unwesen getrieben habe.
Gelddruck, Zeitdruck, Fälschungsdruck
Doch sind Verfälschungen, Auslassungen, Unsauberkeiten nicht auch ein über die Reportage hinausgehendes, strukturelles Problem des Journalismus? Symptom von Geld- und Zeitdruck? Sie habe als Volontärin in einer Lokalredaktion mal erlebt, erzählt Moderatorin Tina Groll, dass ein Freier über alle Veranstaltungen an einem Wochenende schreiben sollte, obgleich es unmöglich war, sie alle persönlich zu besuchen – und von der Redakteurin deshalb angehalten wurde, die Details einfach hinzuzudichten. Gerade im Lokalen ist für aufwändiges Fact Checking eben einfach keine Zeit, weiß Katharina Dodel, Redakteurin bei „drehscheibe“: „Ich habe eine Stunde und dann muss die Geschichte stehen.“ Zu Zeitdruck aufgrund von Arbeitsverdichtung komme aber auch noch der wirtschaftliche Druck. Der sei wegen der finanziellen Situation der Medien immens, ist sich Schumacher sicher. Da würden Recherche und Faktenprüfung dann schnell in den Hintergrund treten. Was zähle, seien die schnellen Klicks.
„Qualitätsjournalismus braucht auch Qualitätsleser*innen“
Schumacher regt deshalb an, verstärkt über eine öffentliche Finanzierung auch der privaten Medien nachzudenken. Denn eines sei klar: „Qualitätsjournalismus braucht auch Qualitätsleser*innen.“ Oder wie es Neues-Deutschland-Redakteurin Alina Leimbach ausdrückt: „Alle wollen alles kostenlos, aber beschweren sich dann, wenn es nur Schrott ist.“ Sie forderte: „Wir brauchen mehr Klasse statt Masse.“
Aber was tun, um den immensen Vertrauensverlust zu lindern und wieder an Glaubwürdigkeit zu gewinnen? Oder wird der Fall Relotius etwa zum Sündenfall Relotius? Die langjährige Chefredakteurin der Berliner Zeitung Birgit Fehrle, aktuell gemeinsam mit Spiegel-Nachrichtenchef Stefan Weigel sowie Interimsblattmacher Clemens Höges mit der internen Aufklärung des Falls Relotius betraut, hält alle Maßnahmen für sinnvoll, die die Fehlerkultur verbessern können. Sie weist aber zugleich auf das Dilemma hin, dass es die Glaubwürdigkeit untergraben könne, ständig zu viele Fehler zuzugeben. Hilfreich seien auch Beschwerdestellen in den Häusern, der Einsatz von Ombudsleuten, die Pflege der Leserbriefe. Karsten Kammholz, Chefreporter und Mitglied der Chefredaktion in der Funke-Zentralredaktion in Berlin, wünscht sich mehr Transparenz über Fehler nicht nur nach außen, sondern auch nach innen: „Wenn ein Chefredakteur Fehler gemacht hat, dann sollte er das auch vor versammelter Mannschaft zugeben.“ Von Holger Stark, Ressortleiter bei Zeit Investigativ und Mitglied der Zeit-Chefredaktion, kommt außerdem der Vorschlag, sich „schon beim Schreiben ehrlich und transparent sowie Quellen explizit zu machen“, den Leser*innen mit dem Text sozusagen ein „eingehäkeltes Rechercheprotokoll“ mitzuliefern.
Ob die Affäre um Relotius eine echte Zäsur darstellt und zu nachhaltigen Veränderungen führen wird, mag die Runde aber lieber nicht bejahen. Laut Fehrle wüssten wir das erst in einigen Jahren. Als Lerneffekt erhofft sie sich eine Befreiung des Journalismus von den Emotionen, während auch Leimbach künftig auf Reportagen hofft, die „kein Selbstzweck mehr sind“, sondern Tiefgang haben. Stark dagegen fühlt sich relativ positiv gestimmt, was die Zukunft betrifft, denn immerhin hätten die Selbstreinigungskräfte des Journalismus funktioniert: Es war ein Kollege, der Journalist Juan Moreno, der den Skandal letztendlich aufgedeckt und damit den Fall Relotius ins Rollen gebracht hat.