Durch Klimakrise und Coronapandemie steigt bei Mediennutzer*innen die Nachfrage nach einem Journalismus, den Non-Profit-Startups bieten: Konstruktive Informationen, dialogisch und einordnend aufbereitet, an den Interessen eines vielfältigen Publikums orientiert. Doch noch fehlt vielen Medienneugründungen eine nachhaltige Finanzierung. Einblicke in einen Journalismus, wie er sein könnte – wenn medienpolitische Rahmenbedingungen sich ändern.
In Deutschland gibt es zwischen 70 und 140 Medien-Startups – darunter viele „Herzensprojekte“, die mit „Idealismus, Ideenreichtum und Innovationskraft“ gegründet wurden, so die Bamberger Kommunikationswissenschaftlerin Vera Katzenberger im Gespräch mit M. Als aktuellen Trend bei diesen Non-Profit-Projekten macht sie eine „stärkere Publikumsorientierung“ aus, die sich im lokal verankerten, lösungsorientierten Journalismus zeigt. Beispiele dafür seien „RUMS“ in Münster und die „Relevanzreporter“(zuvor „Lokalblog“) in Nürnberg, die den Bürger*innen der Stadt wegen der dortigen Medienkonzentration seit 2020 alternative Informationsangebote machen. Alexandra Haderlein, Gründerin der „Relevanzreporter“, erläuterte Anfang dieses Jahres in einem BR-Interview, klassische Medien würden über Klimawandel, Migration oder die Corona-Pandemie zu negativ, zu problem- und zu wenig lösungsorientiert berichten – was gerade junge Menschen abschrecke. Diese Zielgruppe solle mit konstruktivem Journalismus erreicht werden.
Haltung: Konstruktiv und kuratiert
2021 folgte dann das auch lokal, lösungsorientiert aufgestellte Portal „VierNull“ in Düsseldorf. Zwar nicht dem konstruktiven Journalismus verpflichtet, aber auch haltungs- und meinungsstark ist „Katapult MV“, das als regionaler Shootingstar seit Anfang Juni die Zeitungswüste in Mecklenburg-Vorpommern mit frischen Informationen versorgt. Chefredakteur und „Katapult“-Gründer Benjamin Fredrich will den Bürger*innen vor allem eine Alternative zum dortigen Monopolisten „Nordkurier“ bieten, dem er vorwirft, systematisch mit Rassismus zu arbeiten, um eine höhere Reichweite zu erzielen.
Mit konstruktivem Journalismus setzen die Startups dem Negativismus der traditionellen Medienberichterstattung – „only a bad news is a good news“ – und ihrem Objektivitätsanspruch ein anderes Verständnis der öffentlichen Aufgabe entgegen, „das Selbstgespräch der Gesellschaft“ zu organisieren. Auch die Medienforscherinnen Alexa Keinert, Annett Heft und Leyla Dogruel, die 2018 zwölf News-Startups zur Zukunft ihrer Profession befragten, stellten fest: „Die Illusion eines objektiven Journalismus wird durch einen Journalismus mit Haltung und Persönlichkeit abgelöst.“ Vertrauen entstehe über die Menschen, die eine gut recherchierte Geschichten schreiben, in der Hintergründe und Zusammenhänge deutlich werden.
Als weiteren Zukunftstrend analysierten Keinert, Heft und Dogruel kuratierten Journalismus. Die Gatekeeperfunktion als „ein zentrales Alleinstellungsmerkmal des professionellen Journalismus“ werde an Bedeutung gewinnen, da Rezipient*innen mittlerweile ihre Informationen über die Welt aus einer Vielzahl von Kanälen beziehen: Zeitung, Radio, Fernsehen, Internet oder Berichte von Einzelpersonen, die über social media geteilt werden. Startup-Journalist*innen, die Beiträge nicht selbst schreiben, sondern aus dem gesamten Medienspektrum zusammenstellen, wollen mit ihrer Kurationsleistung vielfältige Perspektiven für die Rezipient*innen erschließen und sie aus ihrer Filterblase holen, indem sie eine Alternative zu automatisierten Newsfeeds bieten.
So heißt es auf der Website der 2017 gegründeten Plattform „The Buzzard“, die seit 2020 als App zur Verfügung steht: ,,In einer Zeit, in der Menschen immer mehr in ihren Denkmustern verharren und Verschwörungstheorien soziale Netzwerke überfluten, wird es wichtiger denn je, den Überblick zu behalten – und verschiedenste Perspektiven kritisch prüfen und einordnen zu können.“ In einem Interview 2020 erläutert Dario Nassal, einer der „Buzzard“-Gründer, „wie schmal der Grat ist einerseits zwischen dem Ansatz, Filterblasen aufbrechen zu wollen und andererseits gefährlichen Leuten keine Legitimation zu verschaffen“. Kurz nach dem Start erntete das Team harsche Kritik, weil es in einer Debatte zur rechten französischen Politikerin Marine Le Pen einen Beitrag des rechtsradikalen Blog PI News verlinkte, ohne ihn journalistisch ausreichend einzuordnen. Die Konsequenz: Nun gibt es rote Linien für Quellen, „die demokratiefeindliche und verschwörungstheoretische Inhalte veröffentlichen“ und die Auswahlkriterien für Perspektiven und Themen sind „transparent einsehbar“.
Die kostenlose Kurator-App und -Website „Squirrel News“ bündelt seit Ende 2020 lösungsorientierte Beiträge aus deutsch- und englischsprachigen Medien. Im Juni wurde ein „Spiegel“-Artikel über eine Gemeinde nahe Freibug verlinkt, die eine Umweltprämie an Menschen zahlt, wenn sie ihr Auto abschaffen und mit dem ÖPNV fahren. Für „Squirrel-News“-Gründer Jonathan Widder ist das Konstruktive ein Alleinstellungsmerkmal im Kampf um die Aufmerksamkeit von Leser*innen, heißt es in einer Studie des Grimme-Instituts zu Konstruktivem Journalismus. Dieser wirke nicht nur emotional positiver, sondern scheine von Nutzer*innen auch überdurchschnittlich häufig in sozialen Netzwerken geteilt zu werden, was wiederum Reichweite für die Content-Produzent*innen bedeute. Außerdem gebe es „starke Indizien dafür, dass konstruktive Stücke vergleichsweise selten Hassrede nach sich ziehen“.
Perspektiven: Mehr Diversität und Kollaboration
Der Trend zu mehr Perspektivenvielfalt beinhaltet einen lösungsorientierten Blick auf die Welt, aber auch eine Fokussierung auf vernachlässigte Themen und Zielgruppen. Beispiele dafür sind das 2019 gegründete Magazin „Veto“, über mutige und engagierte Menschen der Zivilgesellschaft oder „RosaMag“, das die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder 2019 gründete. Dem Online-Magazin geht es darum, „Vorbilder für afrodeutsche Frauen zu schaffen und mit dem stereotypisierten Bild von Schwarzen Deutschen zu brechen.“ 2019 entstand auch das Portal Bliq, das Muslim*innen in den Medien thematisierte und seinen Fokus 2020 unter dem Dach der Neuen Deutschen Medienmacher*innen (NdM) erweiterte auf andere Menschen, die in deutschen Medien einseitig und diskriminierend dargestellt werden. So erweisen sich Startups auch in Sachen Diversität als Trendsetter, denn klassischen Medien mangelt es immer noch an Vielfalt in Personal, Programm und Publikum. Dabei gehe es nicht nur um „Chancengerechtigkeit oder gesellschaftliche Repräsentation“, so die NdM in ihrem Diversity-Guide: „Mehr Vielfalt bringt neue Zielgruppen, neue Kundschaft und vor allem einen besseren, erfolgreicheren Journalismus.“
Das gilt auch für Kollaborationen – von Journalist*innen untereinander und von Medien mit ihren Leser*innen. So betrachteten die 2018 befragten News-Startups „Kollaborationen als zentrale Organisationsform eines zukunftsfähigen Journalismus“. Ein Mitarbeiter des Agora-Projects, das vom weltweiten Journalist*innennetzwerk „Hostwriter“ 2017 initiiert wurde, erklärte: „Wir glauben an diese Idee der Zusammenarbeit, auch dass man nationale Stereotypen immer wieder hinterfragen kann. Und das kann man eben nur, wenn man mit Leuten mit unterschiedlichen Prägungsverhältnissen zusammenkommt.“ 2020 ging das „Hostwriter-Agora-Project“ in die zweite Runde und unterstützte Journalist*innen aus Ost- und Südeuropa bei der Berichterstattung über die Corona-Pandemie.
Als weitere Bespiele für die Kooperation von Journalist*innen werden in der Studie zu News-Startups zwei Neugründungen von 2016 genannt: „Perspektive Daily“ und „Investigate Europe“, ein Rechercheverbund von neun Journalist*innen aus acht Ländern. Bei aufwändigen Recherchen oder der Entwicklung von Themenideen setzen Startups auch auf Kooperationen mit ihren Rezipient*innen – angefangen bei „Krautreporter“und „Correct!v“, die beide 2014 gegründet wurden. Keiner, Heft und Dogruel resümieren, Organisation und Finanzierung seien zentrale Herausforderungen: “Kollaboration müsste sich gegenüber Konkurrenzdenken stärker durchsetzen, die Zahlungsbereitschaft der Rezipient*innen steigen, Vertrauen zurückgewonnen und rechtliche bzw. politische Hürden bei der Finanzierung angegangen werden.“
Finanziell tragfähig: Publikumsorient und gemeinnützig
Medienforscherin Vera Katzenberger betrachtet die „Publikumsorientierung als Königsweg“ – sowohl inhaltlich bei der journalistischen Arbeit als auch bei ihrer Finanzierung, denn das sichere den innovativen Mediengründungen die Unabhängigkeit. Die Bereitschaft, für Inhalte zu zahlen, gebe es eher in der jüngeren Generation und sei gerade in der Coronapandemie gestiegen, erklärt sie gegenüber M.
So strebt auch „RUMS“ eine Community-Finanzierung an. Als das Gründungsteam seinen digitalen Newsletter mitten in der Covid-19-Pandemie nach einem halben Jahr im September 2020 kostenpflichtig machte, blieb mehr als ein Viertel der Leserschaft bei der Stange. Einer schrieb: „Für mich ist qualitativ hochwertige und unabhängige Berichterstattung die 8 Euro wert und außerdem ein wichtiger Bestandteil der Demokratie.“ Auch „Relevanzreporter“, „VierNull“ oder „The Buzzard“ finanzieren sich über ein solches Abomodell für Mitglieder der Community, das seit über einem Jahrzehnt erfolgreich praktiziert wird. Philipp Schwörbel, der 2010 die „Prenzlauer Berg Nachrichten“ gründete, spricht von der Monetarisierung von Leser*innenbeziehungen. Dafür hat er das Tool Steady entwickelt, das mittlerweile viele Startups nutzen – etwa „RosaMag“ oder das 2019 gegründete Medizinmagazin „MedWatch“, das über „gefährliche und betrügerische Heilsversprechen im Netz“ aufklärt. Es wirbt um Unterstützungsabos, um nach einem ehrenamtlichen Start „professionell und nachhaltig“ weiterarbeiten zu können.
Die meisten Startups setzen auf einen Mix verschiedener Einnahmequellen wie Spenden, Stiftungsgelder und staatliche Förderung. Sie beginnen zumeist mit einer Crowdfundingkampagne wie „Veto“, Stiftungsgeldern wie „correct!v“ oder staatlicher Förderung, etwa aus dem Programm „Demokratie Leben“ wie „Bliq“ und hoffen dann auf weitere Unterstützungen. So setzt „Squirrel News“ auf Spenden, damit das Team seine ehrenamtliche Arbeit „in absehbarer Zukunft auch hauptberuflich“ betreiben kann. Das Startup ist ein Projekt des gemeinnützigen Vereins Constructive News, der “neue, nachhaltige Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen besser sichtbar und zugänglich“ machen will. Deshalb können Spendenquittungen ausgestellt werden.
„Auf Gemeinnützigkeit werden große Hoffnungen gesetzt, denn sie erleichtert das Einwerben von Spenden und Stiftungsgeldern“, so Katzenberger. So können viele der etwa 23 000 Stiftungen in Deutschland laut Satzung auch nur gemeinnützige Akteur*innen unterstützen, d. h. journalistische Projekte müssen Zwecke wie Bildung, Verbraucherschutz oder Völkerverständigung verfolgen, um gefördert zu werden. Aber das wird von Finanzämtern unterschiedlich ausgelegt. Um eine Abhängigkeit vom örtlichen Finanzamt in Münster zu vermeiden, habe das lokale Startup „RUMS“ auch entschieden, auf die Gemeinnützigkeit zu verzichten, so Christian Humborg, einer der Gründer, auf der Netzwerk-Recherche-Jahrestagung 2020.
Diese Situation könnte sich nun bessern: Im Januar 2021 wurde der Verein „Forum gemeinnütziger Journalismus“ gegründet, der sich mit Lobbyarbeit für eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts und eine Stärkung nicht kommerzieller Medien einsetzt, indem sie mehr Rechtssicherheit bei der Finanzierung erhalten. Zum Bündnis gehören Medienprojekte, Zusammenschlüsse von Journalist*innen und Stiftungen. Sie alle wollen gemeinnützigen Journalismus als Ergänzung zu privatwirtschaftlichen Medien und öffentlich-rechtlichem Rundfunk im deutschen Mediensystem verankern. Ihr Qualitätssiegel orientiert sich am Kodex des Presserats, der Initiative Transparente Zivilgesellschaft und der Abgabenordnung im Steuergesetz. Damit will sich das Bündnis auch von kommerziellen und rechtspopulistischen Mediengründungen abgrenzen.
Ein „anderer“ Journalismus
Die gemeinwohlorientierten Medien-Startups geben dem Journalismus wichtige Impulse, aber viele Gründer*innen können davon nicht leben. Nach einer Studie zur Prekarisierung des Berufs vom März dieses Jahres haben Journalist*innen, die für eigenständige Online-Medien arbeiten, am häufigsten einen weiteren bezahlten Job, „was auch damit zusammenhängen kann, dass hier fast zu 70 Prozent freiberufliche Journalist*innen zu finden sind. Außerdem ist es das Medium mit dem drittniedrigsten durchschnittlichen Monatseinkommen.“
Potential für Innovationen, aber Hürden wie Unterfinanzierung sehen auch die Medienforscher Christopher Buschow und Christian-Mathias Wellbrock bei Medienneugründungen – insbesondere den nicht gewinnorientierten Startups. Sie adressierten so manche Defizite von kommerziellen Anbietern, etwa bei kostenintensiven, investigativen Recherchen oder der Nähe zum Publikum. In einem Gutachten zur Innovationspolitik im Journalismus 2020 für die Landesmedienanstalt NRW empfehlen sie, das öffentliche Budget, das im Vergleich zur „Digital News Initiative“ von Google sehr gering ist, zu erhöhen und neben technologischen vor allem journalistische Innovationen zu fördern – etwa mehr Diversität und vernetztes Arbeiten. Sie schlagen ein spezielles Innovationsprogramm für die Unterstützung von Non-Profit-Mediengründungen vor.
In einem ZAPP-Kommentar zum Scheitern der geplanten Bundespresseförderung im Mai dieses Jahres erklärte Buschow, warum darin eine Chance liegt, die so eingesparten 220 Millionen Euro sinnvoll für Innovationen im Journalismus einzusetzen. So gebe es „aufseiten digitaler Neugründungen und gemeinwohlorientierter Nachrichtenorganisationen große Innovationsfähigkeit, die mit kluger Förderung weiter gesteigert werden könnte.“ Da bleibt zu hoffen, dass Non-Profit-Startups bald nicht nur Trendsetter, sondern auch Jobmotoren werden, die außer gutem Journalismus auch „gute Arbeit“ bieten.